Sexueller Missbrauch – ein Teil der Erzgebirgskultur?

Wir veröffentlichen hier einen Erfahrungsbericht eines Betroffenen von sexuellem Missbrauch. Seine Geschichte klagt eine Gesellschaft an, in der Betroffenen immer noch viel zu häufig die Schuld für die Gewalt gegeben wird, die sie erfahren mussten und in der sie viel zu wenig Unterstützung finden. Auf dass das Sprechen über diesen Skandal der Anfang einer Veränderung werden kann!
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Als Jugendlicher mit 15 Jahren betrachtete ich sexuellen Missbrauch als etwas entferntes. Es war für mich ein Thema, welches mich nie selbst betreffen würde. So etwas widerfährt nur anderen und man hört oder liest lediglich davon. Das passiert nur ganz selten und auf gar keinen Fall mir.

Bis ich 1994 in Chemnitz einen Bus verpasste der mich in meinen damaligen Wohnort im Erzgebirge bringen sollte (der Busfahrer fuhr zwei bis drei Minuten eher los) und ein scheinbar freundlicher älterer Mann mir anbot mich mit seinem Auto nach Hause zu fahren. Unterwegs meinte dieser Mensch einen Umweg fahren zu müssen. Ich hatte Todesangst. Nachdem dabei erfolgten sexuellen Missbrauch dachte ich das Schlimmste wäre vorüber. Doch weit gefehlt. In meiner damaligen Schule, einem Thumer Gymnasium, fand man den Vorfall witzig. Weil einigen eine Frisur nicht gefiel, die ich Monate vor der Tat trug (die aber zum Tatzeitpunkt nicht sichtbar war), sollte angeblich ausschließlich ich selbst und zwar ganz allein an dem sexuellen Missbrauch schuld gewesen sein. Andere waren der Meinung ich würde mich irgendwie komisch verhalten und wäre deshalb selbst schuld. Dies „wussten“ die sich so äußernden Menschen ohne Details des Tathergangs zu kennen. Meinen Hinweis, dass z.B. die angesprochene Frisur zu diesem Zeitpunkt nicht sichtbar gewesen ist, quittierte eine Lehrerin in ihrem diesbezüglichen Vortrag während des laufenden Unterrichts vor der versammelten Klasse mit: „Aber man spürt das du anders bist. Du bist freiwillig ins Erzgebirge gezogen, da hat man sich anzupassen. Eigentlich ist dass was dir passierte schrecklich, aber in deinem Fall… So wie du rumläufst gibt es nur einen der an diesem Vorfall schuld ist und dass bist ganz allein du.“ Die sich so äußernde Lehrerin als auch die Mitschüler hatten sehr große Freude daran, mir dies mitzuteilen, und bei nicht wenigen bekam ich den Eindruck, dass sie sich auch über die Tat freuten.

Das Übertragen der Verantwortung für den sexuellen Missbrauch vom Täter auf mich als Betroffenen bedeutet eigentlich nichts anderes, als den erfolgten sexuellen Missbrauch zu legitimieren. Denn wenn angeblich ein Betroffener dafür „ausschließlich allein“ verantwortlich wäre, wird der Täter nicht nur von jeglicher Schuld frei gesprochen. Es wurde ihm indirekt ein nicht näher spezifiziertes Recht eingeräumt sich so mir gegenüber zu verhalten. Der sexuelle Missbrauch wurde als eine Art „extremes Erziehungsmittel“ gesehen welches genutzt werden kann, wenn Jugendliche sich nicht in der Erzgebirgskultur wiederfinden und z.B. nicht bereit sind den örtlichen Dialekt „angemessen“ zu übernehmen. Niemand in besagtem Gymnasium wollte der offen geäußerten Auffassung widersprechen. Mit meiner Auffassung, an einem sexuellen Missbrauch ist allein der Täter schuld und ein solches Handeln ist in keinster Weise rechtfertigbar, stand ich in dieser Schule allein da. Die Reaktion der Anderen auf meine Worte glich der Reaktion auf einen guten Witz, den jeder lustig findet. Mit dem Gelächter meiner ehemaligen Mitschüler bekam ich einen Einblick in deren charakterlichen Abgrund, auf den ich gerne verzichtet hätte.

Die Argumentation läuft im Prinzip darauf hinaus, dass bei einem sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Erzgebirge der Täter von jeglicher Verantwortung für seine Taten freigesprochen und stattdessen den Betroffenen die komplette Verantwortung auferlegt wird, nur weil den Betrachtenden irgendetwas an einem nicht passt. Im Erzgebirge ist diese Argumentation eine legitime Herangehensweise welche im breiten Rahmen geteilt wurde und der niemand widersprach. Außerhalb meines Elternhauses war niemand bereit mir in irgendeiner Reaktion zu zeigen, dass er den sexuellen Missbrauch ablehnt. Irgendwann freute ich mich sogar dass viele Personen mit Desinteresse reagierten wenn sie von Dritten davon erfuhren und mir nicht auch mit schmierigem Grinsen einen Vortrag darüber hielten, dass der sexuelle Missbrauch in meinem Fall eine Berechtigung hätte, wie die Lehrerin in der Schule oder meine Mitschüler.

Sexueller Missbrauch als legitimes Erziehungsmittel, dafür muss man sich im Erzgebirge nicht einmal besonders von den anderen unterscheiden. Bei mir genügte dafür einige Monate vor der Tat sich einen Iro rasieren zu lassen, die auf mich bezogenen Preußenwitze von Lehrern und Mitschülern abzulehnen und zu versuchen, so weit wie möglich hochdeutsch zu sprechen. Ansonsten konnte man mich von den anderen Jungs in meinem Alter allenfalls dadurch unterscheiden, dass mein Körper alles andere als kräftig gebaut war (der Sexualtäter hielt mich zunächst für 13jährig). Ich erlebte in dieser Zeit keine einzige Reaktion außerhalb meines Elternhauses, die den sexuellen Missbrauch ablehnte. Auch wenn diese belastenden Kommentare abnahmen – zwei Jahre lang musste ich an jedem Schultag damit rechnen dass es mal wieder jemand öffentlich toll findet und mir in ausgelassenem Tonfall Freude darüber ausdrückt, dass ich sexuell missbraucht wurde. Danach zog ich um. Ich besuchte einige Monate später noch einmal meine ehemalige Schule um das Gespräch zu suchen, kam aber nicht dazu. Da meine ehemaligen Mitschüler inzwischen von meiner Homosexualität erfuhren meinten diese, ich hätte den sexuellen Missbrauch doch genießen sollen. Sie spekulierten darauf, dass ich diesen als so schön empfunden hätte, dass ich daraufhin meine Sexualität änderte. „Dass war kein sexueller Missbrauch, sondern der richtige Gebrauch“ wurde mir mit freudiger Stimme mitgeteilt.

Während des sexuellen Missbrauchs hatte ich beständige Angst dass der Täter meine zu diesem Zeitpunkt in meinem Rucksack befindliche homosexuelle Coming-Out-Lektüre entdeckt, so herausfindet das ich schwul bin und daraus eine Berechtigung zu weiteren Taten ableiten könnte. Der Täter teilte mir bereits ohne Kenntnis meines Rucksackinhalts während des Missbrauchs mit, dass eine durch ihn erfolgte Manipulation meines Penis sein Verhalten rechtfertigen würde und ihm einen weiteren grenzenlosen sexuellen Missbrauch erlaubt. Meine früheren Mitschüler teilten mir, nachdem sie von meiner Sexualität erfuhren, aus eigenem Antrieb und ohne Kenntnis der Äußerungen des Missbrauchstäters mit, dass sie bezüglich einer möglichen Manipulation des Penis der gleichen Meinung sind wie der Täter. Bei so einem „Spaß“, da lacht im Erzgebirge auch jede und jeder mit und stellt sich verbal mit dem Missbrauchstäter auf eine Stufe. Niemand, auch keine Lehrkraft, äußerte einen anderen Standpunkt. Das Homosexualität eines Jugendlichen Dritte berechtigt diesen sexuell zu missbrauchen, dass war zu diesem Zeitpunkt in dieser Schule allgemeiner Konsens. Auf diese Einblicke in die lokale Sexualkultur hätte ich gerne verzichtet. Vorher dachte ich dass diese Denkweise nur bei Sexualtätern existiert. Von mir wurde nicht für möglich gehalten, dass die erzgebirgische „Normalbevölkerung“ in dieser Region ähnlich denken könnte. Ich ziehe es seitdem vor meine Besuche in der dortigen Region auf das absolut notwendige Minimum zu beschränken. Als „Kulturträger“ betrachte ich die Erzgebirger seitdem nicht mehr und sehe darin auch kein „Welterbe“.

Es war mir aufgrund dieser Äußerungen zunächst nicht möglich über den Missbrauch (und die allgemeine Zustimmung im Erzgebirge für diese Tat) zu sprechen oder mir psychologische Unterstützung zu organisieren. Aufgrund der Tatsache, dass diesen Äußerungen in einer Schule öffentlich niemand widersprach musste ich davon auszugehen, dass die meisten Menschen in dieser Region ähnlich denken. Hätte ich mit anderen darüber gesprochen hätte ich damit rechnen müssen, dass diese Personen die offen geäußerte Haltung bestätigen, dass der sexuelle Missbrauch meiner Person angeblich voll und ganz gerechtfertigt und eine angemessene Reaktion auf eine mögliche „mangelnde Anpassung an die Erzgebirgskultur“ wäre.

Diese Kommentare schädigten mich zwar nicht im Einzelnen, aber in ihrer Gesamtheit stärker als der Missbrauch an sich. In mir entstand damals der Eindruck, dass sich entsprechend äußernde Menschen eine charakterliche Nähe zu der Person aufwiesen, die mich sexuell missbraucht hatte. Inzwischen weiß ich, dass diese Kommentare in den Sexualwissenschaften ebenfalls als Formen sexualisierter Gewalt eingestuft werden. Teilweise sprechen qualifizierte Fachmenschen von einem sexuellen Sekundärübergriff, bei dem die makaberen Kommentare über den Missbrauch als Sekundärtat von dem sexuellen Missbrauch als Primärtat abgegrenzt werden. Jedoch verwenden nicht alle Sexualwissenschaftler den Begriff „sexueller Sekundärübergriff“, andere sprechen schlicht von einem weiteren bzw. erneuten sexuellen Übergriff. Ein Professor der Sexualwissenschaften teilte mir mit dass ich davon ausgehen kann, dass die den sexuellen Missbrauch legitimierenden Personen sich mir gegenüber auch einmal so mächtig und überlegen fühlen wollten wie der ursprüngliche Missbrauchstäter. Die charakterliche Nähe zwischen der missbrauchenden Person und den diesen Missbrauch legitimierende Personen besteht also tatsächlich. Allerdings ist letzteres Verhalten nicht strafbar. Diese Instrumentalisierung ist zwar im sexualwissenschaftlichen Sinne ein sexueller Übergriff, jedoch nicht im juristischen Sinne. Nicht wenige der sich entsprechend äußernden Menschen sehen darin eine Legitimierung dieses Verhaltens. Doch nur weil es legal ist, sich verbal mir gegenüber auch mal so „stark“ und „überlegen“ zu fühlen wie der damalige Missbrauchstäter, heißt dass nicht dass dieses Verhalten gerechtfertigt oder moralisch legitim wäre.

Doch nicht nur in abgelegenen Tälern des Erzgebirges frönt man einer solchen Unkultur. Auch in meinem neuen Wohnort, die sich weltoffen gebende Bergstadt Freiberg, konnte ich mich nicht dauerhaft sicher fühlen.

Ich erlebte in Freiberg z.B. dass Menschen erst die Todesstrafe für Kinderschänder fordern und wenn einige dieser Menschen mitbekamen, dass ich als Betroffener eines sexuellen Missbrauchs diese Forderung ablehne, mir meinten mitteilen zu müssen das ich nicht „ausreichend schwer missbraucht“ bzw. dass mir selbiges gewünscht wurde damit ich ihre Meinung teile. Hier wird das regional-kulturelle Paradox besonders gut sichtbar – vordergründig wird erst sexuelle Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen abgelehnt, um dann grinsend mit Hilfe einer haarsträubende Begründung zu dem Schluss zu gelangen, die existierte Gewalt würde der so urteilenden Person eigentlich nicht genügen – effektiver kann man meiner Meinung nach keine Eigenaussage über den eigenen Charakter treffen.

Bereits vor meinem Wegzug nach Freiberg war ich 1995, ein Jahr nach dem sexuellen Missbrauch, in eine linke Partei eingetreten mit dem Ziel, diese Gesellschaft so zu verändern, dass anderen Betroffenen nach einer solchen Gewalttat diese bescheuerten Reaktionen erspart bleiben. Im Zuge dessen entwickelte ich zahlreiche Aktivitäten und übernahm politische Ämter. Auf Initiative „meiner“ Partei wurde ich u.a. 2014 als sachkundiger Einwohner des Freiberger Stadtrats durch einen Stadtratsbeschluss berufen. Im Rahmen der Ausübung dieses kommunalpolitischen Mandats nutzte ein Stadtrat der mich entsendenden Fraktion seine Kenntnisse über den erlebten Umgang mit dem sexuellen Missbrauch und rief mit makaberen Kommentaren diese Bilder erneut in mir vor. Für den Vorfall gibt es einen Zeugen. Der Stadtrat war sich aufgrund vorhandener Kenntnisse seiner Wirkung auf mich voll bewusst und geistig voll zurechnungsfähig. Ursprünglich ging ich aufgrund des gesellschaftlichen Standpunkts meiner früheren Mitschüler davon aus, dieses Verhalten wäre eine Eigenheit des konservativen bis rechten Spektrums. Die Toleranz dieses Verhaltens in einer linken Partei, die ich erfuhr als ich es schaffte die Kraft aufzuwenden dieses Verhalten innerparteilich zu thematisieren, und das breite Wegschauen in dieser Gesellschaft nach der Veröffentlichung des Vorfalls erschütterten mich und zeigten mir, wie tief dieses Verhalten in unserer Gesellschaft akzeptiert wird.

In der Partei wurde über den Versuch, die Bilder eines sexuellen Missbrauchs erneut in mir zu wecken, hinweggesehen, es als makaberer Spaß abgetan bzw. sogar gerechtfertigt und der sich so äußernde Politiker im weiteren zeitlichen Verlauf in Kenntnis des Vorfalls erneut zu Kreis- und Stadtratswahlen aufgestellt, in den Ortsvorstand gewählt und mit der Leitungsfunktionen (z.B. bei Parteiversammlungen) beauftragt. Die Kommentare des Stadtrats (ich bezeichne diese als Sekundärtaten in Abgrenzung zu der Primärtat des Missbrauchs) benennt in diesem konkreten Fall der Sexualwissenschaftler Prof. Dr. Voß als eine Aktualisierung der Gewalterfahrung und als retraumatisierend. Auch wenn diese Äußerungen auf verbaler Ebene erfolgten, ordnet er sie, z.B. aufgrund der Wirkung, als Form sexualisierter Gewalt ein und bezeichnet den Vorfall und ebenso das oben genannte Verhalten von Mitschülern und einer Lehrerin als erneute sexuelle Übergriffe. Diese sind geeignet ähnliche emotionale Verletzungen hervorrufen zu können wie der sexuelle Missbrauch an sich. Für mich war es unter diesen Umständen nicht mehr möglich mein Mandat als sachkundiger Einwohner weiter auszuüben, da mit einer Fortsetzung dieses Verhaltens gerechnet werden musste, weil die Partei und deren Stadtratsfraktion den Sekundärtäter weiter gewähren ließ. Dass er weiter in Amt und Würden verbleibt war zu diesem Zeitpunkt des Rückzugs aus dem Mandat absehbar.

Um das Mandat des sachkundigen Einwohners vorzeitig niederzulegen wendete ich mich an die Stadtverwaltung und erklärte meinen Rücktritt. Die Freiberger Stadtverwaltung benannte dies für unzulässig, weil ein Rückzug nur aus bestimmten Gründen erfolgen könnte (mir wurden mehrfach ausdrücklich gesundheitliche Gründe genannt), ich einen entsprechenden Antrag zu stellen hätte und drohte bei Nichtausübung des Mandates mit einem empfindlichen Bußgeld. Damals war ich noch nicht so stark über den erlebten Missbrauch sprechen zu können wie jetzt. Trotzdem nahm ich meinen Mut zusammen, stellte (erst einen nichtöffentlichen Antrag und nachdem mir dass als unzulässig untersagt wurde) einen öffentlichen Antrag für die folgende Freiberger Stadtratssitzung zwecks Abberufung als sachkundiger Einwohner. Bei mir entstand bereits dabei der Eindruck, die Freiberger Stadtverwaltung möchte den Vorfall vertuschen und mir Steine in den Weg legen.

Es wurden in meinem Antrag sowohl die Gründe meines Ausscheidens als auch der Namen des Sekundärtäters genannt. Danach bekam ich den nächsten Schock. Zunächst kommunizierte die Stadtverwaltung, dass in der nächsten Stadtratssitzung über meine Abberufung als sachkundiger Einwohner abgestimmt wird und vermittelte dadurch den Eindruck, dass der Abstimmung mein Antrag zugrunde liegen würde. Es wurde mir verschwiegen dass „meine“ ehemalige Fraktion mehrere Tage nach meinem Antrag ebenfalls einen Antrag auf die Abberufung meiner Person aus dem Amt des sachkundigen Einwohners an den Freiberger Stadtrat stellte, jedoch ohne Gründe zu nennen. Dieser wurde statt meines Antrags im Stadtrat zur Abstimmung gestellt. Es wurde dadurch auf Dritte der Eindruck erweckt, ich hätte einfach keine Lust mehr auf kommunalpolitische Arbeit bzw. wäre zu faul dafür, würde daher freiwillig diese Tätigkeit beenden. Das bedeutet eine komplette Verdrehung der Tatsachen und es wurde von mir als Verleumdung empfunden! Ich wäre sehr gern weiter sachkundiger Einwohner geblieben, wenn nicht die genannten Umstände eingetreten wären die mir eine weitere politische Arbeit unmöglich machten. Als ich den Oberbürgermeister diesbezüglich über Facebook (anders war er für mich nicht erreichbar) zur Rede stellte behauptete dieser, mein Antrag wäre nicht zulässig gewesen – meiner Meinung nach eine klare Falschbehauptung des Oberbürgermeisters!

In meinem Antrag hatte ich ausdrücklich die emotional-psychischen Folgen für mich benannt. Es war mein gutes Recht, mich vor weiteren Formen sexualisierter Gewalt und damit auch meine psychische Gesundheit schützen zu wollen. Damit hatte ich die Kriterien für einen legitimen Rückzug aus dem besagten Amt (gesundheitliche Gründe sind laut Gesetz für den von mir genannten Rücktritt ausdrücklich zulässig) mehr als erfüllt. Die Stadtverwaltung Freiberg ist scheinbar der Meinung, dass die Aktualisierung der Gewalterfahrung eines sexuellen Missbrauchs und diesbezügliche Retraumatisierungen nicht gesundheitlich beeinträchtigen könnten oder ein solches Verhalten im Rahmen der Mandatsausübung als sachkundiger Einwohner hingenommen werden muss. Deutlicher konnte man mir nicht zeigen, dass die Akzeptanz dieses Verhaltens, d.h. dass Dritte sich an sexuellem Kindes- und Jugendmissbrauch zu erfreuen, sich nicht nur auf kleine Orte des Erzgebirges beschränkt sondern ein Teil des hiesigen kulturellen Regionalverständnisses ist.

Die Stadtverwaltung Freiberg stellt also indirekt die von mir erlebten Formen sexualisierter Gewalt als eine Art „notwendiges Übel“ hin, welches ein sexuell missbrauchter Mensch in Kauf nehmen müsse, wenn dieser öffentlich politische Ämter oder Mandate ausübt. Mit einem solchen Vorgehen werden meiner Meinung der Umgang mit sexuellem Missbrauch, wie ich es erleben musste, behördlich legitimiert. Der Oberbürgermeister erweckte in seiner Kommunikation via Facebook den Eindruck, ein meinerseits der Emotionalität geschuldeter Rechtschreibfehler wäre aus seiner Sicht erheblich gravierender einzuschätzen als der sexuelle Sekundärübergriff.

Der Vorfall wird seitens der Stadtverwaltung nicht nur verharmlost. Bis heute verweigert sie die bei einer regulären oder, aus triftigen Gründen, vorzeitigen Beendigung des Mandats als sachkundiger Einwohner obligatorische Aushändigung einer Ehrenurkunde für die geleistete ehrenamtliche Tätigkeit. Mir geht dabei weniger um das Stück Papier an sich, sondern dass meine jahrelange ehrenamtliche Arbeit brachial entwertet wird, weil ich nicht bereit bin sexualisierte Gewalt durch Teile der „Elite der Kommunalpolitik“ einfach hinzunehmen. Inzwischen sollte der Sachverhalt allen Fraktionen des Freiberger Stadtrats bekannt sein. Niemand der gewählten Politikerinnen und Politiker im Freiberger Stadtrat äußert öffentliche Kritik an dem Verhalten des Oberbürgermeisters oder hat in diesem Gremium auch nur ein Problem damit neben einem Menschen zu sitzen, der öffentlich makabere Kommentare über sexuell missbrauchte Menschen äußert.

In dieser Region wird, wie z.B. das Verhalten der Stadtverwaltung zeigt, scheinbar von Betroffenen erwartet dass diese sexualisierte Gewalt in der genannten verbalen Form über sich ergehen lassen. Ich habe noch nie erlebt, dass es in dieser Region für irgendjemanden negative Konsequenzen hatte, wenn er sich darüber freut dass ich sexuell missbraucht wurde, selbst sich so äußernde Politiker wurden problemlos wiedergewählt.

Unbekannte Dritte veröffentlichten das Geschehen sowie den Namen des Täters auf Indymedia. Irgendwann entdeckte ich Aufkleber mit einem QR-Quode als Link zu diesem Beitrag im Stadtgebiet. Jeder kann sich also über diesen sexuellen Übergriff informieren, aber scheinbar sehen in unserer Region die Meisten weg und möchten über dieses menschenverachtende Verhalten nicht diskutieren. Darin sehe ich ein weiteres Zeichen, wie sehr sexualisierte Gewalt ein fester Teil der Erzgebirgskultur ist. Eigentlich sollte allgemein bekannt sein, dass Menschen die Kinder oder Jugendliche sexuell missbrauchen, Menschen die sich darüber freuen oder den Missbrauch legitimieren und Menschen, die derartige Handlungen verharmlosen, zumindest gewisse ähnliche Charakterzüge aufweisen könnten. Es ist ein bezeichnendes Armutszeugnis für diese Region, dass es dafür eines bundesweit bekannten Professors der Sexualwissenschaften bedarf. Ob in anderen Gegenden diese Einstellung zu sexuellem Missbrauch genauso wie im Erzgebirge verbreitet ist, kann ich nicht beurteilen. Das sie auch in anderen Regionen verbreitet ist erlebte ich z.B. an dem Verhalten der linken Partei, dessen Landesverband die sexuellen Übergriffe des oben genannten Stadtrats zu tolerieren scheint, sich weigert den Vorfall angemessen aufzuarbeiten und sich nach meiner Auffassung ähnlich vertuschend verhält wie die katholische Kirche. Teile der Parteiprominenz stellen sich scheinbar schützend vor den Ortsverband. Dritte bezeichneten deren Verhalten als „Toleranz sexueller Übergriffe“.

Doch wo Schatten ist, muss irgendwo auch Licht zu finden sein.

Seitdem ich in der Lage bin derartige makabere Kommentare und die sich so äußernden Menschen öffentlich zu benennen, muss ich mir dergleichen nicht mehr anhören, im Gegenteil. Mir fällt auf dass es inzwischen in dieser Region nicht wenige Menschen zu geben scheint, die ein solches Verhalten klar ablehnen können. Wenn Personen in den letzten Jahren meinten makabere Kommentare über den erlebten Missbrauch tätigen zu müssen, äußern sie sich nicht so offen wie in meiner Schulzeit. Es werden möglichst Andeutungen verwendet, damit unbeteiligte Dritte den Charakter dieser Äußerungen nicht nachvollziehen können – und das wird sicherlich Gründe haben. Beispielsweise möchte der oben genannte Stadtrat, welcher den sexuellen Sekundärübergriff auf verbaler Ebene beging, öffentlich nicht zu seinen Äußerungen stehen. Er kündigte bereits vor Jahren Anzeigen wegen Verleumdung und juristische Verfahren gegen mich an, ließ diese jedoch nach der namentlichen Erwähnung eines Zeugen seiner Äußerungen dann doch lieber sein. Scheinbar ist die demonstrative Zurschaustellung persönlicher Rechtfertigung (des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen) nicht mehr ganz so gesellschaftsfähig wie in meiner Jugendzeit. Deutet sich vielleicht ein kleiner Wandel in unserer Region an?

Einige Mitmenschen raten mir, gewaltaffine autoritäre Konfliktlösungsmittel gegen derartige Sekundärtäter anzuwenden. Doch darin sehe ich den falschen Weg. Nicht nur weil es schlicht unmöglich wäre all der Menschen habhaft zu werden, die sich darüber freuen dass ich sexuell missbraucht wurde. Autoritäre Konfliktlösungen mit Gewaltcharakter würden vielleicht dazu führen dass sich EINE Person nicht mehr entsprechend äußert und vielleicht dessen persönliches Umfeld eingeschüchtert wird. Die Denkweise dieser Region, welche die Stützpfeiler bietet auf denen Menschen diese menschenverachtenden Kommentare äußern, die bleibt unberührt. Viel wichtiger scheint es mir, die Sicht auf das Thema zu ändern – und das ist genau der Zweck dieses Textes. Mein Ziel ist es eine gesellschaftliche Debatte zu initiieren die darauf abzielt, dass derartige sexuelle Sekundärübergriffe zukünftig gesellschaftlich geächtet werden. Es sollte eben nicht mehr so sein dass ein missbrauchter Jugendlicher darauf verzichten muss, sich Unterstützung bei der Aufarbeitung eines Missbrauchs zu suchen, weil damit gerechnet werden muss dass Dritte zu ihrem persönlichen Vergnügen mit fragwürdigen Amüsements den erlebten Schmerz erneut erlebbar machen. Stattdessen sollte es gesellschaftlicher Konsens sein, dass sich so äußernde oder diese Äußerungen verharmlosende Personen künftig am Rande der Gesellschaft wieder finden (statt in politische Ämter gewählt zu werden). Denn völlig verhindern lassen sich diese sexuellen Sekundärübergriffe nicht, sie werden zudem juristisch nicht erfasst – einen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen zu rechtfertigen oder gezielt diesbezügliche Erlebnisse in einem Betroffenen zu wecken um sich an der möglichen emotionalen Reaktion zu erbauen, dass ist zumindest in der genannten Form nicht strafbar. Aber wir als Gesellschaft können durchaus reagieren, in dem wir dieses Verhalten thematisieren statt es einfach hinzunehmen. Als Jugendlicher rechnete ich zu nahezu jeder Zeit und an jedem Ort damit, dass sich Dritte öffentlich darüber amüsieren dass ich missbraucht wurde. Es wäre schön, wenn sich stattdessen zukünftig über sexuellen Missbrauch amüsierende oder diese Äußerungen duldende Menschen genauso zu jeder Zeit und an jedem Ort damit rechnen müssen, dass die Gesellschaft ihnen die Ablehnung dieses Verhaltens mitteilt. Statt mit dem Finger auf sexuell missbrauchte Menschen zu zeigen sollten sich die Finger auf diejenigen richten, die meinen sich daran erbauen zu müssen. Dies sollte selbstverständlich gewaltfrei geschehen. Todesstrafen und Lynchjustiz lehne ich konsequent ab!

Natürlich stellt es einen Unterschied dar, ob ein Mensch selbst Kinder oder Jugendliche missbraucht, ob jemand dieses Handeln über makabere Kommentare legitimiert bzw. sich an dem Missbrauch erfreut oder ob jemand diese Kommentare toleriert bzw. akzeptiert. Für mich stehen jedoch die Gemeinsamkeiten in den Persönlichkeiten der sich so verhaltenden oder äußernden Menschen im Vordergrund. Meiner Meinung nach ist es auch bezeichnend für diese Region dass ich mich rechtfertigen muss, weil mir die Unterschiede zwischen diesen persönlichen Einstellungen marginal erscheinen angesichts des Abgrunds, der zwischen mir und Menschen mit derartigen Einstellungen liegen. Wir sollten uns auch als Gesellschaft fragen, ob deren Worte nicht sexuellen Missbrauch fördern, in dem sie zum einen den Boden bereiten auf dem Missbrauchstäter sich in ihrem Handeln sicherer fühlen können und zum anderen, weil die Verharmlosung dieser Taten es Betroffenen erschwert sich Unterstützung zu suchen und so Missbrauchstaten unentdeckt bleiben. Ich habe in diesem Text bewusst nur die erlebten Beispiele konkret genannt, für die Beweise oder Zeugen existieren – es gibt einige mehr. Einem Gerichtsverfahren sehe ich gelassen entgegen.

Auch wenn gerade einige ältere Menschen meinen „man wird ja wohl noch sagen dürfen“, merke ich dass die meisten jüngeren Menschen diese menschenverachtenden Kommentare inzwischen eindeutig ablehnen. Auch in dieser Region kann sich etwas verändern. Es fällt mir schwer dieses Verhalten zu thematisieren, auch weil dabei ein hoher persönlicher Preis zu zahlen ist. Eine Thematisierung der hier genannten sexuellen Sekundärübergriffe bedeutet eben auch, sich selbst erneut den eigenen Verletzungen stellen zu müssen. Mir war dies lange nicht möglich. Seit ich derartige Schweinereien thematisieren kann – auch wenn mich dass jedes mal emotional verdammt aufwühlt – wagt es scheinbar niemand mehr sich öffentlich mir gegenüber über den sexuellen Missbrauch zu freuen. Es ist jedoch nicht meine Absicht es dabei bewenden zu lassen. Ich bin mit Sicherheit nicht der Einzige, dem in dieser Region so etwas passiert ist. Die Gründe, die mich als Jugendlichen dazu bewegten mich politisch zu engagieren, die habe ich bis heute nicht vergessen auch wenn ich mich in keiner Partei mehr engagiere. Ich will die genannten Zustände verändern! Jetzt möchte ich meine inzwischen gewonnene Fähigkeit, über derartige Dinge sprechen zu können, nutzen – um eben eine Debatte zu initiieren mit dem Ziel, dass auch im Erzgebirge nicht mehr als „harmloser Spaß“ gewertet wird, wenn mit makaberen Kommentaren die Gewalterfahrung eines Missbrauchs in den Betroffenen aktualisiert und sie retraumatisiert werden, damit sich darüber Amüsierende an betroffenen Reaktionen erbauen können.

Wenn in den Parlamenten und Rathäuser künftig keine Politiker sitzen, die sexualisierte Gewalt witzig finden oder für akzeptabel halten, sondern ein solches Verhalten klar einschätzen und ablehnen können, wäre dass schon mal ein Anfang.

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